
Nachlese
Wenn Bewegung Geschichten erzählt
Zeitgenössischer und hochaktueller kann eine Erzählung nicht sein als jene, die uns Editta Braun mit „Underdogs“ wie Lettern in den Tanzboden schreibt. Eine Performance, die reagiert auf das Verschwinden von Werten, die erzählt von der Auflösung der Welt, wie wir sie kennen oder wie wir sie gerne hätten, ein archaisches Werk, das sich zwischen Tanz, Schauspiel und Akrobatik bewegt. Die Bilder, die dem Publikum vom eindrucksvollen, international besetzten Ensemble (Francesco D’Amelio, Weng Teng Choi-Buttinger, Marcin Denkiewicz, Nikola Majtanova, Marcello Musini, Jerca Rožnik Novak) in den Kopf gezaubert werden, sind manchmal dystopisch, in mancher Hinsicht utopisch. Sie erzählen von Widerstand und Überlebenskunst, vom Kampf um Identität und Daseinsberechtigung in einer Welt, die zunehmend an Empathie und Menschlichkeit verliert.
Alle Sinne werden erfasst, die Verbindung zwischen den Elementen der Bewegung und der Musik – komponiert von Thierry Zaboitzeff – erzeugt die Illusion, als ob die Musik Worte auf einer Seite wären und die Bewegungen wie Illustrationen dazu. Oder ist es genau umgekehrt? Fest steht: Der Kern der Magie, der man sich in diesem Stück freiwillig ergibt, ist die Erkenntnis, wie abstrakt und ausdrucksstark der Körper sein kann, wenn er Geschichten aus Bewegung generiert. Atemberaubender, spektakulärer Tanz, faszinierende und komplizierte Choreographien – Editta Braun, Choreografin, Gründerin und Leiterin der Editta Braun Company, ist nichts weniger als ein choreografisches Genie.
Musik, Licht und Bewegung falten sich ineinander mit Kontraktionen der Körper, dem Gewicht der Schwerkraft, dem Spiel von Nähe und Distanz – alles im Dienst der Mission der kreativen Erkundung dieser unserer Welt, die gerade jetzt so ins Wanken gerät. Ein Stück mit ungeheurer symbolischer Kraft, ein Kronjuwel in der Welt des zeitgenössischen Tanzes, ein Manifest des Widerstands gegen Gleichgültigkeit, ein eindringlicher Appell an die Kraft der Gemeinschaft. Underdogs ist physisches Theater in höchster Vollendung, ein Stück, das viel kommuniziert, ohne ein einziges Wort zu sagen – eine Meisterschaft des körperlichen Geschichtenerzählens.
(lf)