Nachlese
Mozart und EAV im Tango vereint
Es gibt in diesem gesegneten Land viele außerordentlich begabte Musiker – und dann gibt es da noch Folksmilch. Sicher, Christian Bakanic (Akkordeon, Perkussion, Gesang), Klemens Bittmann (Violine, Mandola, Gesang) und Eddie Luis (Kontrabass, Perkussion, Gesang) gehören auch der erstgenannten Gruppierung an, bilden aber gleichzeitig eine Enklave des unbegrenzten Sounds, den No-Limits-Distrikt in der Saiten- und Tastenwelt – nennen Sie es wie sie wollen.
Zugleich sind die drei Musikpoeten Todfeinde der Musiktheorie und Alptraum jedes Musikpädagogen. Die Grenze zwischen Klassik und Moderne? Folksmilch eliminiert dieses Hindernis innerhalb einer Notenzeile. Der Unterschied zwischen Tango und Michael Jackson? Nach zwei Takten Geschichte. Mozart und EAV? Wird auf der Folksmilch-Töpferscheibe zu MAV-Art umgebaut. Soweit die musikalische Grundlage des Abends mit Folksmilch und deren Programm „Palermo“.
Wer nun aber glaubt, wenn die drei Herren zulangen, käme eine verworrene Tonkaskade auf das Publikum zu, ist auf dem ganz falschen Dampfer. Denn das Schiff, dass bei Folksmilch kommt und im Hafen von Piräus an die Kaimauer schlägt, ist ein explosionsartiges Gespinst aus feinen und feinsten vokalen Details, die sich, für den Zuhörer wie durch ein Wunder, zu einem subtilen und zugleich kraftvollen Sound zusammenfügen, dass einem beim Zuhören vor Spannung die Luft ausgeht.
Doch damit sind Bakanic, Bittmann und Luis noch lange nicht am Ende der Fahnenstange, denn instrumentale Genialität alleine scheint dem Trio mit Orchestersound, und ihrem erklärten Auftrag der Zermürbung musikalischer Grenzen, viel zu wenig zu sein. Fast möchte man annehmen, der Bewegungsapparat der drei Musiker möchte mit ihrem musikalischen Ausdruck wetteifern. Die Bühne ist ständig in Bewegung, es wird gewandelt, gebärdet und gestampft, Instrumente werden gewechselt, umfunktioniert, gerne auch mehrmals im gleichen Stück, man hat ja sonst nichts zu tun.
Der Abend begann als Höhepunkt und steigerte sich rasend schnell über die Krönung bis zur Stretta.
Erwähnenswert scheint in diesem Zusammenhang, nehmen wir als Beispiel „Vienne Sous La Neige“, dass die vokalen Elemente im Programm „Palermo“ kein Schattendasein fristen. Genau genommen hat es, in dem Moment als Klemens Bittmann erstmals die Violine beiseitelegte und zur Stimme griff, die Zuhörerschaft fast von den Stühlen gerissen. Da schmetterte sich eine Klangwand, irgendwo zwischen Helden- und Countertenor, gegen das wehrlose Publikum, die wie eine „Fata Morgana“ (hier setzt Bittmann noch eins drauf) durch das Emailwerk flimmert, in der man aber keine Oase sondern die Reinkarnation von Klaus Nomi zu erkennen glaubt. Es ist unheimlich. Einzig der sonore Bassbariton von Eddie Luis geleitet das Auditorium wieder einigermaßen sicher auf den heimeligen Boden der „Sierra Madre“ zurück. Mit dieser künstlerischen Dreifaltigkeit aus virtuosem Instrumentalsound, expressivem Gesang und feinem Entertainment bedient sich Folksmilch einer unverwechselbaren Handschrift. So vergeht ein Abend voller musikalischer Mysterien, humorvoller Grenzgänge und ungläubigem Staunen, nicht zuletzt angesichts einiger Soli. Die Hand von Christian Bakanic hat auf der Knopfgriff-Seite seines Akkordeons 16 Finger. Heiliges Ehrenwort!!
(mw)