Nachlese
Eine Wanderung abseits ausgetretener Klangpfade
Spätestens wenn Anna Anderluh die Bühne betritt und zum Singen ansetzt, weiß man, dies wird ein Konzert, das alle Regeln und Hörgewohnheiten außer Kraft setzen wird. Je früher man sich darauf einlässt, desto genuss- und lustvoller kann man diese Musik genießen. Diese Musik? Musik ist Freiheit ohne Grenzen, und Mut zu Eigenwilligkeit ist die Grundlage und ebnet den Weg dafür. Davon hat Anna Anderluh mehr als ausreichend. Aber das allein ist es nicht. Auf Komposition, Fantasie und Handwerk liegen bei ihrer Musik das Hauptaugenmerk, und die stetige Suche nach dem Anderen, dem nicht Gewohnten, dem Neuen. Das alles verwebt sie geschickt in Songs, die an manchen Stellen harmonisch verführen, um in anderen Momenten mit scheinbar überbordendem Klangchaos aufzurütteln.
Anna Anderluh stellt unsere Hörgewohnheiten auf die Probe, sie treibt die Noten wie eine Herde wildgewordener Pferde vor sich her, an uns vorbei und durch uns durch, überrascht drehen wir uns um und sehen ihnen nach, schon sind sie wieder weg, zum Trost klingen versöhnliche Harmonien aus dem Flügel, den sie benutzt, als wäre es ein Instrument, das man erst gestalten müsste. Stichwort Instrument - auch die Klangkörper, die sie mitbringt, sind Teil dieses Überraschungs-Cocktails: Autoharp (so etwas wie eine halbautomatische Zither), Babykeyboard und Plastiksackerl zum kollektiven Rascheln. Ihre musikalischen Begleiter Lukas Aichinger an Schlagzeug und Percussion sowie Philipp Kienberger am Bass fügen sich in Annas Welt nahtlos, aber so zurückhaltend und sparsam ein, als wollten sie das kompositorische Element von Anna wie auf einer Sänfte tragen, stützen und heben. Feine Klinge auf der ewigen Suche nach musikalischer Vollkommenheit.
Die Texte sind realpoetische Wortgemälde und legen immer den Finger auf die Verwundbarkeit der Gesellschaft: "Das Lied vom Billigfliegen", die "Öde an den freien Willen", "Das Nadelöhr zerdreschen", um nur einige zu zitieren. Die Welt retten mit Musik, scheint das zu bedeuten, es wäre schön, wenn das funktionieren könnte. Und wenn Neil Youngs "Harvest Moon" als Cover-Ausnahme durch den zierlich energetischen Klangkörper Anna Anderluh strömt, ist dieses Lied am Ende von ihr in Besitz genommen und von ihren eigenen Kompositionen nur mehr schwer zu unterscheiden. Zuletzt verschwindet sie noch buchstäblich im Echoraum des Flügels und besingt die Saiten auf zart betörende Weise, um dann endgültig die Bühne zu verlassen und das Publikum sich selbst und den Inspirationen zu überlassen, die zwangsläufig in diesen 70 Minuten entstanden sind.
Für das Emailwerk war dies das wahrscheinlich außergewöhnlichste Konzert der Nach-Lockdown-Saison und eine wunderbare und persönliche Herbstwanderung abseits der ausgetretenen Klangpfade in Annas fantastische Musikwelt.
(lf)